Mittwoch, 27. April 2016

Vinyl – ein finsterer Dämon aus der Alten Welt

Ich verstehe überhaupt nicht, wie man sich heute noch freiwillig das Geknackse und Geknistere von analogen Schallplatten antun kann. Wer so wie ich damit aufgewachsen ist, dürfte in der Regel froh sein, wenn er sich damit nicht mehr befassen muß. Viel spannender finde ich da eher das technische Prinzip der Tonband­aufnahme, insbesondere in Gestalt der handlichen Compact Cassetten. Wobei damit weniger die lieblos zusammengeklatschen Audiozombies vom VEB ORWO Wolfen gemeint sind, sondern eher die schnieken, heißen, sexy Oriental-Models aus Japan. Für eine Chromsubstitut-Kassette von TDK warf ich gern mal mein ganzes Taschengeld in die schmierigen Hände zwielichtiger Hifi-Dealer, denn die für sieben D-Mark im Intershop gehandelten Haben-Wollen-Produkte waren für mich als Westverwandte-loser Ossi unerschwinglich, also bettelte ich Kollegen an, die mir für im Kurs 1:7 umgetauschte 50 Ostmark die begehrte Tonbanddroge besorgten. Natürlich höchsten medizinischen Standards genügend, hygienisch sauber eingeschweißt.
     Viel schwieriger war es hingegen, vernünftige Geräte zu bekommen, denn die in der DDR hergestellten Kassettendecks waren ebenso häßlich wie technisch anfällig. Dank meines damals aufgeübten Berufes als Fachverkäufer für Rundfunk, Fernsehen und Elektroakustik – so die sperrige offizielle Bezeichnung – konnte ich auch einen Blick hinter die realsozialistische Einzelhandelsfassade werfen: Bestimmt jedes dritte Kassettengerät war schon nach kurzer Zeit defekt, entweder schon beim obligatorischen Vorführen während des Verkaufsvorganges (das war in der DDR so vorgeschrieben – alles mußte ausgepackt, angeschlossen und vorgeführt werden), oder es kehrte schon nach wenigen Tagen als Reklamation wieder in den Laden zurück.



     Daher schien es nach der Wende undenkbar, ein technisches Gerät ungeprüft zu kaufen und in seiner geschlossenen Verpackung mit nach Hause zu nehmen, einfach weil man sich als Ossi nicht vorstellen konnte, daß derart komplizierte Technik auch so zuverlässig konstruiert sein konnte, daß sie anstandslos funktionierte.
     Kassettendecks aus dem Ausland waren aber nicht nur deswegen so beliebt, sie sahen auch besser aus und hatte oft erstaunliche Eigenschaften. So gab es bei manchen Geräten beispielsweise eine automatische Titelsuchfunktion: Während des Abspielvorganges, bei gedrückter Play-Taste, mußte man einfach nur die Vor- oder Rücklauftaste drücken, schon suchte das Laufwerk automatisch nach der nächsten oder vorigen Pause zwischen zwei Titeln. Anfangs kam mir das ebenso absurd wie phantastisch vor – zwei Tasten zur gleichen Zeit gedrückt, das gab es bei den Laufwerken aus hiesiger Produktion überhaupt nicht.



     Also erzielten Kassettendecks aus Japan, selbst in gebrauchtem Zustand, in Zeitungsannoncen und staatlichen An-und-Verkaufläden absolute Phantasiepreise. Die einfachsten Einsteigergeräte von JVC, wegen ihrer Zuverlässigkeit besonders bei DJs beliebt und geschätzt, erreichten Preise von rund 1400 Ostmark, was etwa zwei durchschnittlichen Monatsgehältern entsprach. Ein extrem seltenes Doppeldeck konnte schon mal bis zu 2600 Ostmark kosten. Später arbeitete ich bis kurz vor der Wende auch in einem solchen Geschäft am Rosenthaler Platz (arbeitstechnisch die glücklichste Zeit meines Lebens) und ergatterte eine dieser seltenen Raritäten. Unterm Ladentisch selbstverständlich!
     Aber bereits als Teenager interessierte mich die Kassettentechnik, konnte man mit ihr doch beim Radiohören auch gleich die neuesten Hits mitschneiden, denn westliche Schallplatten waren ebenfalls Raritäten im Osten. Nachdem ich nach langem, ungeduldigem Warten endlich einen gebrauchten, halb defekten Sonett-Monorekorder besorgen konnte (mein Gott, war das 'ne Klapperkiste), weckte dieser kuriose Repräsentant ostdeutscher Unterhaltungselektronik trotz seiner traurigen Gestalt anscheinend dennoch den Neid eines damaligen Freundes. Mit reichlich vorhandener, reicher Westverwandschaft. Und was tat die reiche Westverwandschaft? Tröstete den armen Neffen im Osten mit dem größten, fettesten, begehrenswertesten und teuersten Ghettoblaster, der im Intershop zu finden war. Einem Sharp GF-8989H, damaliger Preis – exakte neun­hundert­neunund­neunzig Westdeutsche Mark. Eine für mich damals in unerreichbaren Sphären angesiedelte Zahl.



     Ich schätze mal, nur wer damals in derselben Lage stecke wie ich, kann ermessen, welch schmerzhaften, brennend-glühenden Neid dieses perfekt konstruierte, makellos durchgestylte Fernost-Produkt bei mir erzeugte. Es stammte aus der Hochzeit japanischer Audiotechnik und war mit allen Raffinessen ausgestattet, die ein tragbarer Rekorder damals aufweisen konnte: Dolby B, Metall-Band-tauglich, Soft-Touch-Tasten, Vier-Wege-Lautsprecher-System und natürlich APSS – automatischer Titelsuchlauf. Zwei Tasten gleichzeitig drücken! Wie absurd und gleichzeitig phantastisch! Und wie traumatisch für mich armseligen, Boxer-Jeans- und Germina-Turnschuh-tragenden Ostjungspund!
     Vor einigen Jahren gelang es mir dann, bei Ebay eines dieser Heiligtümer zu ersteigern (und fragt bloß nicht, was ich dafür bezahlt habe!). Aber erst jetzt ist es mir gelungen, das Gerät auch wieder zum Laufen zu bringen. Denn Antriebsriemen leiern mit der Zeit aus, Gummirollen verhärten, und Ersatzteile sind schon lange nicht mehr erhältlich. Man muß sich also durchwurschteln und nach passenden Teilen aus anderen Quellen suchen. Bei Gummi-Meyer wurde ich dann endlich fündig, die benötigten drei Riemen und drei Reibradgummis hatte er in den annähernd passenden Größen vorrätig. Nur ein Gummirad mußte noch mittels Cutter passend zugeschnitten werden.



     Nach einer Stunde intensiver Bastelei hatte ich die Gummiteile dann endlich am richtigen Platz, da stieg beim ersten Testlauf sofort der uralte Motor aus. Nach dem Einbau eines Ersatzmotors riß die Elektronik der Laufwerksplatine die gleichgerichteten Hufe hoch, starb den Hitzetod und krallte sich im Suizidwahn gleich noch die Gerätehauptsicherung. Fast hätte ich das als böses Omen gewertet, doch es waren noch nicht alle Alternativen ausgeschöpft. Der Trend geht ja immer mehr zum Zweitrekorder, weshalb ich im Wohnzimmer noch ein Ersatzgerät zum Ausschlachten bereithielt. Mit der dort entnommenen Platine nebst Sicherung kam das Laufwerk dann endlich in die Gänge. Allerdings streikte die Endabschaltung der Wiedergabe noch ein Weilchen. Nach intensivem Studium der Laufwerksfunktionen konnte ich aber einen zu schlaffen Gummiriemen als Störenfried ausmachen, nach dessen Austausch die Kassetten nun endlich so abgespielt werden, als wäre der Rekorder soeben frisch im Intershop gekauft worden. Hurra!!!
     Gelernt habe ich bei dieser nervenaufreibenden Aktion zweierlei: Zum einen, welch großartige Ingenieurskunst sich in solch einem Laufwerk verbirgt. Denn die zwischen Motor, Schwungmasse, Zahnrädern, sowie den vielen Hebeln, Gummiriemen und Reibrädern wirkenden Kräfte müssen extrem fein aufeinander abgestimmt sein. Bereits die leicht reduzierte Spannkraft eines ausgeleierten Riemens, die mit der Zeit glattgeschliffene Oberfläche der Rutschkupplung oder die verlorengegangene Haftreibung eines Gummirades können einem gehörig den Tag vermiesen. Und zweitens – ich habe ein weiteres Kindheitstrauma endlich erfolgreich aufgearbeitet! Dafür beglückwünsche ich mich!

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